Palm-Stiftung

PALM-STIFTUNG
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Presseerklärung des Kuratoriums der Palm-Stiftung e.V. zum 1. September 2002

Johann-Philipp-Palm-Preis für Meinungs- und Pressefreiheit: Pfarrer Christian Führer und Journalistin Sihem Bensedrine erste Preisträger

Pfarrer Christian Führer aus Leipzig und Journalistin Sihem Bensedrine aus Tunesien sind die Träger des Johann Philipp Palm–Preises für Meinungs- und Pressefreiheit 2002. Sie teilen sich den mit 20.000 € dotierten Preis, der von der Palm-Stiftung gemeinnütziger Verein Schorndorf e. V. alle zwei Jahre und in diesem Jahr erstmals verliehen wird. Schirmherr der Preisverleihung ist der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, Erwin Teufel.

Die Palm-Stiftung ist eine gemeinnützige Körperschaft mit Sitz in Schorndorf. Sie wurde 1995 in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins errichtet. Initiatoren und Stifter des Vereinsvermögens sind die Apotheker Dr. med. Maria und Joh.-Philipp Palm. Die Stifter betreiben in einer jahrhundertealten Familientradition die Dr. Palm’sche Apotheke in Schorndorf. 

Nach ihrem Satzungszweck tritt die Palm-Stiftung für die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte ein, insbesondere der Meinungs- und Pressefreiheit. Meinungs- und Pressefreiheit nehmen eine überragende Stellung im freiheitlich-demokratischen Verfassungsgefüge ein und wollen ständig neu gewonnen sein. In einer globalisierten Welt haben sie über territoriale und gesellschaftliche Grenzen hinweg grundlegende Bedeutung. Mit der Preisverleihung will die Palm-Stiftung dazu beitragen, im Inland wie im Ausland Meinungs- und Pressefreiheit als unabdingbare Voraussetzungen jeder Demokratie durchzusetzen und zu bewahren. 

Die Träger des Johann Philipp Palm-Preises werden vom Kuratorium der Palm-Stiftung e. V. bestimmt. Dem Kuratorium gehören an: Hans Abich, Programmdirektor der ARD i. R.; Dr. Manfred Caspari, Generaldirektor der EU i. R.; Senator h. c. Hermann Fünfgeld, Intendant i. R.; Winfried Kübler, Oberbürgermeister der Stadt Schorndorf; Professor Robert Leicht, Politischer Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit; Dr. Ulrich Palm, Vertreter der Familie Palm; Martin Pfeiffer, Kirchenrat i.R.; Beauftragter für Europafragen, Dr. Thomas Schnabel, Leiter des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg; Hubert Spiegel, Redakteur für Literatur, Frankfurter Allgemeine Zeitung; Dr. Thomas Steinfeld, Redakteur Literatur, Süddeutsche Zeitung; Christa Vossschulte, stellv. Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg; Dr. Joachim Worthmann, stellv. Chefredakteur, Stuttgarter Zeitung.

Der Preis trägt den Namen von Johann Philipp Palm, der ein historisches Vorbild für den Kampf um Meinungs- und Pressefreiheit ist. In der Palm’schen Apotheke zu Schorndorf wurde am 18. Dezember 1766 Johann Philipp Palm als Sohn des Chirurgen Johann Leonhard Palm und der Bäckerstochter Christina Elisabeth geb. Mürdter geboren. Er besuchte die Lateinschule in Schorndorf und brach als 14jähriger auf, um bei seinem ebenfalls in Schorndorf geborenen Onkel Johann Jakob Palm in Erlangen eine Buchhändlerlehre zu absolvieren. Nach Aufenthalten in Frankfurt am Main und Göttingen erwarb er 1796 das Nürnberger Bürgerrecht und heiratete die Tochter Anna Marie des dortigen Buchhändlers Stein. Nachdem Johann Philipp Palm die Firma als Alleinbesitzer übernommen hatte, kam er bald darauf mit den Behörden in Konflikt, weil er einige die Obrigkeit kritisierende Flugschriften verlegt hatte – wie etwa 1798 in Salzburg, wo ein Stadtverbot gegen ihn verhängt wurde. 

1806 verlegte Johann Philipp Palm die anonym verfasste Flugschrift „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“, in der die imperiale Politik Napoleons unter dem Deckmantel der Freiheit scharf kritisiert wurde. Der Autor stellte den französischen Kaiser als unersättlichen Diktator dar, prangerte die Ausschreitungen der französischen Besatzungsmacht an und brandmarkte den kurzsichtigen Eigennutz der kollaborierenden deutschen Fürsten. Die Schrift erregte Napoleons heftigsten Zorn und veranlasste ihn zu dem Befehl vom 5. August 1806, Palm sowie fünf weitere Verdächtige vor ein französisches Kriegsgericht zu bringen und innerhalb von 24 Stunden zu erschießen. Am 14. August wurde Johann Philipp Palm von der französischen Besatzungsmacht gefasst und nach Braunau am Inn vor ein Militärgericht gebracht. Ohne Rechtsbeistand versuchte sich Palm zwar zu verteidigen, gab aber den Namen des Autors der Flugschrift nicht preis. Mitten im Frieden wurde Johann Philipp Palm als Bürger einer deutschen Freien Reichsstadt zum Tode verurteilt und binnen drei Stunden am 26. August 1806 hingerichtet. Drei weitere Mitangeklagte, gegen die ebenfalls Todesurteile ergangen waren, wurden durch das energische Eingreifen ihrer Regierungen gerettet. Das Gerichtsurteil gegen Palm, das in Tausenden von Exemplaren deutscher und französischer Schrift verbreitet wurde, löste als Willkürakt in weiten Kreisen Entsetzen und Erbitterung aus. 

Die Biographie von Johann Philipp Palm zeigt, dass die Ausübung der Meinungs- und Pressefreiheit, die im demokratischen Verfassungsstaat oftmals als eine Selbstverständlichkeit empfunden wird, unter einem Unrechtsregime schlimmste persönliche Folgen bis zu Folter und Tod nach sich ziehen kann. Der Einsatz für Meinungs- und Pressefreiheit liegt nicht nur im Interesse des Einzelnen, sondern dient dem gemeinen Wohl. Demokratie setzt den informierten Bürger und den fairen Wettbewerb konkurrierender Meinungen voraus. Erst dann kann der demokratische Prozess zum Ausgleich widerstreitender Interessen führen. Der Rechtsstaat verlangt die Kontrolle der staatlichen Gewalt durch die informierte Öffentlichkeit. Menschen, die informieren, um aufzudecken, die ihre Meinung kundtun, um zu verändern, bauen daher das Fundament der freiheitlichen Gesellschaft. Wer dagegen das Wort verbietet, fürchtet das Urteil der demokratischen Mehrheit. Mit der Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit gehen grundsätzlich Verletzungen anderer elementarer Menschenrechte einher. Welche Achtung ein Staat den universellen Menschenrechten entgegenbringt, zeigt sich an seiner kommunikativen Freiheitlichkeit.

Vor diesem historischen Hintergrund hat das Kuratorium der Palm-Stiftung Pfarrer Christian Führer und Journalistin Sihem Bensedrine aus einer Reihe preiswürdiger Kandidatinnen und Kandidaten ausgewählt. 

Christian Führer, geb. am 5.3.1943 in Leipzig, ist seit 1980 Pfarrer in der Gemeinde St. Nikolai – St. Johannis (Leipzig). Er ist seit 1968 verheiratet und hat vier Kinder. Von 1982 an initiierte Pfarrer Christian Führer regelmäßig Friedensgebete in der Nikolaikirche. Während die Friedensgebete anfangs dem Protest gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Ost und West  galten, richteten sie sich später gegen die bedrängende gesellschaftliche Situation in der DDR. Mit der Gründung des Kreises „Hoffung für Ausreisewillige“ an der Nikolaikirche 1986/87 verschärfte sich die Auseinandersetzung mit den staatlichen Stellen. Vom Gesprächsabend „Leben und Bleiben in der DDR“ am 19. Februar 1988 an wurden die Friedensgebete von Hunderten von Menschen besucht, die nicht mehr nur aus Leipzig kamen. Basisgruppenleute und Ausreisewillige bildeten schließlich eine Art Notgemeinschaft unter dem Dach der Nikolaikirche. 

Mit der polizeilichen Absperrung der Zufahrtsstraßen zur Nikolaikirche vom 8. Mai 1989 an rückten die Friedensgebete in der Nikolaikirche immer mehr in den Blickpunkt staatlicher Sicherheitsvorkehrungen und des Interesses der Bevölkerung weit über Leipzig hinaus. Vom 4. September bis zum 2. Oktober 1989 wuchs die Zahl der Besucher der Friedensgebete in der Nikolaikirche, die Zahl der Menschen davor und die Präsenz der Polizei- und Kampfgruppenkräfte dramatisch an, so dass Christian Führer als Pfarrer und Kirchenvorstand die anderen Gemeinden der Innenstadt bat, am 9. Oktober die Kirchen für die Friedensgebete zu öffnen, damit die Menschen Schutz in den Kirchen finden können und die christliche Botschaft der Gewaltlosigkeit noch mehr Menschen erreicht.. Etwa 6.000 Menschen fanden in den Kirchen der Innenstadt Platz. 70.000 waren aber aus allen Teilen der DDR gekommen. Nachdem ein nie da gewesenes Aufgebot an polizeilichen, militärischen und paramilitärischen Einsatzkräften aufmarschiert war, schien die „chinesische Lösung“, die Zerschlagung der friedlichen Versammlungen durch Gewalt, unausweichlich. Doch es kam völlig anders. „Keine Gewalt“ wurde von den Massen nicht nur gerufen, sondern konsequent praktiziert. In Sprechchören „Wir sind das Volk“ wurde ein bis dahin nicht gekanntes Selbstbewusstsein gegenüber der staatlichen Gewalt geboren. Im „Auge des Taifuns“ blieb es gewaltlos. Die Tage der DDR waren gezählt, die Maueröffnung nur noch eine Frage des Zeitpunktes. Am 18. Oktober trat Erich Honecker von allen Partei- und Staatsämtern zurück. Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Das Tor zur Wiedervereinigung war aufgetan. 

Die gewaltfreien Demonstrationen am Ende der DDR leisteten einen – vielleicht den – entscheidenden Beitrag zum Fall des totalitären Systems. Einen Ausgangspunkt fanden sie jedenfalls in den Friedensgebeten in der Nikolaikirche zu Leipzig, die von Pfarrer Christian Führer initiiert worden waren. Christian Führer setzte sich dabei der großen Gefahr des gewaltbereiten Staates aus, wie Dokumente der Staatssicherheit zeigen. Entsprechend musste sein Mut zum Widerstand sein und seine Bereitschaft unabsehbare Konsequenzen auf sich zu nehmen. Christian Führer wirkte mit seinem Handeln auf viele persönliche Schicksale ein.

Seinen streitbaren Geist für Demokratie und Menschenrechte beweist Christian Führer mit seinen beherzten Aktionen gegen den Rechtsradikalismus bis in die Gegenwart. Auch dabei nimmt er persönliche Risiken auf sich, indem er sich zum Angriffspunkt der gewaltbereiten rechtsradikalen Szene macht, aber auch die gesellschaftliche Mitverantwortung nicht verschweigt: „Kühl ist es in der Gesellschaft geworden. Da ist viel Platz in den Herzen für die Parolen der großen Vereinfacher. (...) Wir sind auch für alle verantwortlich, die uns wie ein Stein auf dem Herzen liegen. Die Revolution der Herzen kann die Auswüchse unserer real existierenden Demokratie ohne Gewalt und Blutvergießen überwinden. Damit Schalom wird, Frieden, der höher ist als unsere Vernunft und tiefer reicht als unsere Ängste.“  Pfarrer Christian Führer handelt – in anderen Zeiten, aber in vergleichbaren politischen Umständen wie Johann Philipp Palm – unter persönlicher Gefährdung für die Meinungsfreiheit. Das Kuratorium der Palm-Stiftung sieht daher in Christian Führer ein herausragendes Vorbild im Sinne des Stiftungsgedankens.

Sihem Bensedrine verbrachte ihre Jugend in Tunesien. Sie studierte später in Frankreich, wo ihr Interesse für philosophisch-politische Fragen geweckt wurde. 1970 gründete Sihem Bensedrine an ihrem damaligen Wohnort in Toulouse eine Partei der Progressiven Tunesier. Unversehens fand sie sich in Frankreich im Exil. Sie wurde zur persona non grata erklärt und konnte bis 1977 nicht mehr nach Tunesien zurückkehren. 

In den 80er Jahren erfreuten sich die privaten Medien in Tunesien zunächst einer relativen Freiheit. Sihem Bensedrine arbeitete für private Wochenzeitungen, die jedoch alle gegen Ende der 80er Jahre vom Markt verschwanden, als das Regime seine Politik verschärfte. Die Journalistin engagierte sich sofort in der Menschenrechtsbewegung, die Demokratie für das Land verlangte. Sihem Bensedrine ist Gründungsmitglied und gegenwärtige Sprecherin des Nationalen Rats für Freiheiten in Tunesien, einer Organisation, die von der Regierung nicht anerkannt wird.

Sihem Bensedrine übt weiterhin ihre journalistische Tätigkeit aus. Sie ist Chefredakteurin der Online-Zeitung „Kalima“ und Generalsekretärin der „Beobachter zur Verteidigung der Pressefreiheit“. Ihr Magazin ist in Tunesien verboten und wird – in Umgehung der Zensur –ausschließlich über das Internet verbreitet und gelesen (www.Kalimatunisie.com). In ihrer Zeitschrift setzt sich die Journalistin für die zivilen Bürgerrechte und demokratische Reformen ein. 

Die Journalistin wurde am 26. Juni 2001 wegen angeblicher Diffamierung Tunesiens festgenommen, als sie gerade von einer zweiwöchigen Rundtour in Europa zurückkam, auf der sie öffentlich über die Verletzung der Bürgerrechte und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Tunesien gesprochen hatte. Am 11. August 2001 wurde sie aus der Haft entlassen und am Tag ihrer Haftentlassung auf offener Straße von Maskierten überfallen und schwer verletzt. Das Verfahren gegen Sihem Bensedrine läuft derzeit weiter. Ihr drohen – wie für Kritiker des Regimes üblich – sechs bis sieben Jahre Gefängnis.

Seit dem 11. Juli 2002 ist Sihem Bensedrine für ein Jahr Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte, deren Vorstandsvorsitzender der Erste Bürgermeister Hamburgs, Ole von Beust, ist. Die Journalistin wurde der Palm-Stiftung von „Reporter ohne Grenzen“ als Preisträgerin vorgeschlagen.

Sihem Bensedrine zählt – noch dazu als Mutter dreier Kinder – zu den schärfsten Kritikern des tunesischen Regimes und geht damit ein großes persönliches Risiko ein. Ihre mutige journalistische Arbeit und ihre unbeugsame Haltung bringen Sihem Bensedrine politische Verfolgung, Inhaftierung und körperliche Misshandlungen ein. 

Das  Kuratorium  der  Palm-Stiftung  will mit der Vergabe des Johann Philipp Palm-Preises ihren außerordentlichen persönlichen Einsatz für die Meinungs- und Pressefreiheit in Tunesien würdigen. Sie gibt über politische und geographische Grenzen hinweg – wie Johann Philipp Palm – ein herausragendes Beispiel für den Kampf um Demokratie und Grundrechte. Gerade nach dem 11. September 2001 verdienen die demokratischen Kräfte in totalitären Systemen jede Unterstützung. 

Die Preisverleihung findet am 1. Dezember 2002 in der Künkelin-Halle, Schorndorf statt.

Schorndorf, den 2. September 2002